An Allerseelen, auch bekannt als Tag der Toten, gedenken die Menschen ihrer Verstorbenen. Aufgrund der Pandemie sind in den vergangenen zwei Jahren viele Menschen gestorben. Auch wenn wir persönlich womöglich keinen nahen Angehörigen betrauern mussten, sind wir als Menschen doch unausweichlich mit dem Tod konfrontiert.
Doch was ist der Tod wirklich und wie geht man mit ihm um? Es gibt ein berühmtes Koan, das Jojus „Mann des großen Todes“ genannt wird:
Zen-Meister Joju fragte Tu Ja: „Wenn ein Mann des großen Todes ins Leben zurückkehrt, wie ist das?“
Tu Ja antwortete: „Nachts zu reisen ist nicht erlaubt. Ihr müsst bei Tageslicht ankommen.“
Zen-Meister Tu Ja (Touzi Datong oder Tosu Daido) lebte im 9. Jahrhundert und war ein Zeitgenosse des berühmten Zen-Meisters Joju (Zhaozhou Congshen). Bemerkenswert zum Thema „Tod” ist auch die Tatsache, dass beide Übertragungslinien längst ausgestorben sind, dass ihre überlieferten Koans und Dialoge aber bis heute verwendet werden und in dieser Art sehr lebendig werden. Eine alternative Übersetzung von Jojus Frage lautet: „Wenn eine Person, die den Großen Tod stirbt, wieder auflebt, was dann?“ Wer ist diese Person – dieses fühlende Wesen – von dem Joju hier spricht?
Furcht vor dem Verschwinden
Im Plattform-Sutra gibt es einen Abschnitt, in dem der 6. Patriarch über das Bodhisattva-Gelübde spricht, alle fühlenden Wesen vom Leiden zu erlösen. Er sagt, dass die unendliche Zahl der fühlenden Wesen etwa auch den trügerischen Geist, den irreführenden Geist und den bösen Geist umfasst. Wir haben unendlich viele fühlende Wesen in uns, darunter etwa auch den leidvollen Geist, den Geist der Verzweiflung und so weiter. Wenn diese fühlenden Wesen in uns aufhören zu existieren und Körper und Geist vollständig verschwinden, was dann? Was ist es?
Wenn wir herausfinden wollen, was der Tod wirklich bedeutet, müssen wir selbst zu dem Punkt kommen und erfahren, dass all diese Wesen vollständig verschwinden. Wenn wir völlig loslassen. Jeder von uns hat dies höchstwahrscheinlich schon in irgendeiner Form erlebt. Manchmal hat es die Qualität, uns tief zu berühren oder uns wachzurütteln – etwa, wenn wir einen Sonnenaufgang, einen Regenbogen oder einen Vogel im Baum beobachten. Die Praxis kann uns helfen, die Energie zu sammeln und solche Momente klar zu sehen. Auf diese Weise kann auch der Ursprung der Angst vor dem Tod deutlich werden: Halten wir an diesen oben erwähnten Wesen fest? – Wenn wir ein großes Leben leben wollen, müssen wir einen großen Tod sterben. Man mag sagen, dass dies nur in unserem Geist geschieht und dass das Sterben des Körpers eine ganz andere Geschichte ist. – Ist das so?
Trauer über Verlust
Wenn jemand stirbt, haben wir unterschiedliche Möglichkeiten, damit umzugehen. Verschiedene Kulturen gehen mit dem Tod auf unterschiedliche Weise um. Ich erinnere mich an eine gemeinsam mit meinem Bruder unternommene Reise nach Indien. Wir waren auf dem Weg nach Bodhgaya, und am dortigen Bahnhof lagen zwei Leichen auf dem nackten Boden; sie waren mit weißen Leintüchern bedeckt. Wenig später fanden wir dort bereits vier Leichen vor: vier Menschen, vier Körper, preisgegeben den Blicken der Öffentlichkeit. In anderen Ländern wäre dies ein Skandal und würde als unangemessen (oder angemessen, je nachdem, welche Leute man fragt) beurteilt werden.
Nach dem Tod eines nahestehenden Menschen erwecken oft ein Bild, ein Geruch, ein Geräusch, ein Geschmack oder eine Berührung plötzlich Erinnerungen, Bilder und Gefühle im Zusammenhang mit dieser Person. Wie können wir mit der Trauer umgehen? Mit dem Schmerz über den Verlust und mit der Verzweiflung, zurückgelassen worden zu sein? In vielen Kulturen errichten wir einen Ort des Gedenkens wie einen Grabstein oder vielleicht eine kleine Stupa. – Liegt es an dieser Konfrontation, dass wir mit dem Schmerz, der Verzweiflung und dem Leid allmählich vertraut werden und dadurch eines Tages loslassen können?
Ji Jang Bosal
Im Buddhismus rezitieren wir traditionell ein Mantra. Auf Koreanisch heißt es Ji Jang Bosal und trägt den Namen des Bodhisattvas des Übergangs. Auf Tibetisch heißt sie/er Sa Yi Nyingpo. Wir rezitieren dieses Mantra, wenn jemand kürzlich verstorben ist. Die Geschichte von Ji Jang Bosal besagt, dass das Brahmanenmädchen Kṣitigarbha nach dem Tod ihrer Mutter tief beunruhigt war. Sie betete und meditierte inbrünstig, dass ihre Mutter von den Qualen der Hölle verschont bleiben möge. So gelangte Kṣitigarbhas Bewusstsein in ein Höllenreich, wo sie einem Wächter begegnete, der ihr mitteilte, dass ihre Mutter durch Kṣitigarbhas Praxis in den Himmel aufgestiegen sei. Das Mädchen war sehr erleichtert, aber der Anblick des Leids in der Hölle berührte ihr Herz. Sie gelobte, ihr Bestes zu tun, um alle Wesen für Kalpas von ihrem Leiden zu befreien.
Im Buddhismus wird dieses Mantra traditionell 49 Tage nach dem Tod eines Menschen von den Hinterbliebenen rezitiert. Man kann dies allerdings auch alleine tun. Es genügt, das Mantra morgens oder abends leise oder laut zu rezitieren. Wenn wir das Mantra singen, wird alles zu Ji Jang Bosal, jeder Moment wird zu genau diesem Übergang: Ji Jang Bosal ist nicht außerhalb von uns. Dann gibt es nicht mehr meine eigene Trauer, mein eigenes Leiden und meine eigene Verzweiflung, sondern nur noch Trauer. Nichts, was man loswerden könnte, und nichts, dem man folgen müsste. Es geht nicht darum, die Trauer zu beseitigen oder zu unterdrücken.
Nicht mehr, nicht weniger
Können wir dahingegen mit dieser Trauer zusammen sein, ohne etwas aus ihr zu machen? Ohne ihr etwas hinzuzufügen und ohne etwas von ihr wegzunehmen. Ohne sie zu kommentieren. Ohne an irgendeiner Energie festzuhalten und ohne in Fantasien, in Bilder und in Geschichten abzuschweifen, die unser Leiden oft nur verstärken.
Einfach immer wieder nur zum Ji Jang Bosal-Chanting zurückkehren. Es ist nicht wichtig, genau die richtigen Worte zu rezitieren. Wir müssen uns nur unserer eigenen Stimme und der Stimme der anderen bewusst sein (wenn wir mit anderen chanten) und damit eins werden. Dann wird alles zu Ji Jang Bosal. Wir sind so viel mehr miteinander verbunden, als wir denken. Wenn alles Ji Jang Bosal ist, sind auch wir Ji Jang Bosal.
Aber es gibt einen großen Fehler in dem, was ich oben gesagt habe: Es ist sehr wichtig, diesen Fehler zu finden. Andernfalls wird all dies nur zu einer Art Idee. Zen-Meister Tu Ja gibt uns einen Hinweis:
„Nachts zu reisen ist nicht erlaubt. Ihr müsst bei Tageslicht ankommen.“
Lasst uns gemeinsam ein großartiges Leben leben mit allen Sinnen ganz wach – und den großen Tod sterben – von Augenblick zu Augenblick und dieser Welt helfen!
*Illustration: Qiao Bin: Par nirvana (Tod und Transzendenz des Buddha), datiert 1503.
Darstellung von Buddhas Nirwana. Die Begleiter sind in tiefer Trauer: Einer wischt sich eine Träne ab, während andere offensichtlich weinen und um Worte ringen. Der Buddha dahingegen wird in einem friedlich schlafähnlichen Zustand, der eine himmlische Weisheit vermittelt. (China, Steingut mit polychromer Glasur; New York: Metropolitan Museum of Art © Met, CC 1.0, Public Domain.)