Die anhaltende Pandemie ermöglicht es uns, die Verbundenheit mit unseren Mitmenschen zu spüren. Wir können diese Verbundenheit oberflächlich wahrnehmen, doch können wir ihr auch tief im Inneren nachspüren. Wir hören, dass das Corona-Virus keine Grenzen kennt. Politiker, Familienmitglieder und Freunde sagen und tun Dinge, die sich auf jede und jeden von uns spürbar auswirken. Doch es gibt auch eine Verbindung, die jenseits unseres gegensätzlichen Denkens liegt. Worin besteht sie? Wie auch andere empfindungsfähigen Lebewesen leben wir Menschen schon seit vielen Jahren auf diesem Planeten. Was haben wir gelernt? Warum leben wir nicht in Frieden zusammen?
Soziale Geschöpfe
Vor kurzem habe ich den Film „Into the Wild“ gesehen. Der Film basiert auf der realen Geschichte eines jungen Mannes, der sich für ein einsames Leben in der Wildnis und abseits der Menschen entschieden hatte. Kurz vor seinem Tod vertraute er seinem Notizbuch eine bemerkenswerte Erkenntnis an: „Glück wird erst dann wahr, wenn man es teilt“. Es ist unerheblich, ob das Filmdrehbuch sich hier wirklich an die Fakten hält. Der Mensch dürfte ein soziales Wesen sein, das fundamental danach strebt, in Beziehung zu treten und zu teilen.
Doch wenn wir einander treffen und in unseren Ländern, Städten und Häusern zusammenleben, klappt es dann doch so oft nicht. Warum ist das so? Neulich bat ich meinen sechsjährigen Neffen, ein Bild von seiner Familie zu zeichnen. Er zeichnete ein großes Haus mit vielen Fenstern, den Himmel, den Boden, seine Mutter, seinen Vater und sich selbst. Er hat sich selbst etwas kleiner gemalt als seine Eltern. Ein Fenster hatte eine ganz besondere Form. Er erklärte, dass dies das Fenster im Keller sei. Er zeigte das Bild der ganzen Familie.
Malen auf einer inneren Leinwand
Zeichnen wir unsere Welt auf dieselbe Weise? Sind diese Bilder – abgesehen von den verschiedenen Raffinessen – grundsätzlich vergleichbar? Es sieht so aus, als würden wir auf einer inneren Leinwand malen und dieses Bild dann für die Realität halten. Wir malen einen Mann, eine Frau, eine Familie; wir malen einen Geimpften, einen Nicht-Geimpften; wir malen einen König, eine Königin, und bald erscheint ein ganzes Königreich. Wir malen einige Dinge größer als andere, geben ihnen Rollen, weisen auf bestimmte Formen hin, vergleichen und beurteilen sie, machen sie „gut“ und „schlecht“, „richtig“ und „falsch“, „besser“ oder „schlechter“.
Irgendwann wird die Zeichnung zu unserer Zeichnung, werden die Bilder zu unseren Bildern und allzu oft verletzen wir einander und uns selbst, werden wütend, aufgebracht oder deprimiert. Inmitten von Liebe oder Hass, Zu- oder Abneigung schützen wir unser Bild.
Wenn wir längere Zeit miteinander zusammenleben, sammeln wir Beziehungsgeschichten und -schichten an. Zurückliegende Freuden, Verletzungen und Schmerzen können sich wie alte Farbschichten ansammeln und sich zwischen uns und unsere Mitmenschen schieben: Wir leben, getrennt von den anderen und viel mehr mit und in unserem eigenen, inneren Bild.
In Beziehung
Wie gehen wir mit dieser Welt um? Nicht nur mit Menschen, sondern mit der „Welt“? Gibt es eine Chance, dass wir einander wie beim ersten Mal begegnen? Sei es ein Baum im Garten, sei es ein Politiker im Fernsehen, sei es ein Familienmitglied oder ein Freund: Können wir unser mehr oder weniger schlaues konzeptuelles Denken auftauchen sehen, ohne ihm in diesem Moment zu folgen? Das ist vielleicht das Letzte, das wir in diesem Moment wollen. Möchte sich dieses gegensätzliche Denken unter allen Umständen durchsetzen?
Auf dem Meditationskissen ist das sehr ähnlich: Gedanken tauchen auf; wir beurteilen nicht, sondern kehren zu unserem Atem, zum Mantra oder Hwadu (ein kurzer Satz oder eine Frage, die in der Meditation verwendet wird) zurück. Manchmal nennen wir dieses Zurückkommen „Praxis“ und wir wiederholen dies immer wieder und wieder. Manche Menschen, die bei Retreats zum ersten Mal mit der intensiven Praxis konfrontiert sind, berichten von einem Gefühl der Angst zu sterben: Sie erzählen von einem Gefühl der Enge, empfinden den Impuls, zu fliehen und von der wiederkehrenden Frage: „Was mache ich eigentlich hier?“
Was ist es, dass das fühlt? – Können wir diese inneren Ängste und Impulse auch wie ein Gemälde betrachten? Jedes Detail, ohne etwas wegzudrängen, zu übergehen und ohne sich von einzelnen Motiven mitreißen zu lassen. Können wir alle Nuancen ungehindert wahrnehmen?
Ohne Hindernis
Apropos „ungehindert“: Einmal fragte eine Nonne Zen-Meister Song Sahn: „Was bedeutet ‚Ohne Hindernis‚?“ Song Sahn antwortete: „Warum trägst du Kleidung?“ Daraufhin zog sich die Nonne nackt aus und ging zur Tür.
Als ich dieses Kong-an zum ersten Mal las, kam mir der Gedanke: „Das ist eine coole Nonne!“ Ich erinnere mich, dass Zen-Meister Wu Bong einmal zum Thema der Gelübde sagte: „Ich erzähle euch zwei Geschichten, eine über das strikte Einhalten der Gelübde und eine über deren Bruch.“ Dann fügte er hinzu: „Die meisten Menschen bevorzugen die Geschichten über das Brechen der Gelübde.“ – Warum verhält es sich so? Bewundern wir diese besondere Art von „Ohne-Hindernis-Energie“?
Was ist aber in dem erwähnten Kong-an die Rolle von Zen-Meister Song Sahn? Wenn er nichts tut, verhält er sich wie die Nonne in der Geschichte und dies hätte folgenreiche Auswirkungen auf das ganze Kloster. Was sollten wir tun, wenn wir solche Muster in unserem täglichen Leben sehen? „Ohne Hindernis“ bedeutet auch keine Anhaftung an irgendeiner Art von „Ohne-Hindernis“. Sobald wir an einer Energie festhalten, kommen wir (ebenso wie die Gesellschaft) in Schwierigkeiten. Wir mögen es oder auch nicht, finden es weniger aufregend oder farbenfroh, aber es ist sehr notwendig, das zu erkennen. Wie können wir das tun?
Unendliche Leinwand
Kann diese Leinwand so groß sein, sodass alles Platz hat: die Bäume, die Berge, die CO₂-Emissionen, unser Lieblingsgetränk, unsere Schmerzen und Ängste und unsere Meinungen zu Politik und Gesellschaft. Kann diese Leinwand so groß sein, dass sie alles zeigt, alle fühlenden Wesen? – Wenn wir diese unendliche Leinwand im Inneren finden, dann kann sich wahrer Friede und wahre Freiheit erschließen.
Während ich dies schreibe, ist es draußen dunkel geworden. Der helle Monitor erhellt Schreibtisch und Tastatur. Leise brummt der Ventilator. Das Atmen bleibt.